Gedanken

GEDANKEN 1/3

 

Vom Ver-dichten und Ent-dichten und den Schwingungen dazwischen


„Ein Werk entsteht aus der Mitte heraus – und öffnet den Zugang zu den Zwischenräumen.“


Es gibt immer wieder Momente, da verdichtet sich Lebenserfahrung zu Poesie. Manchmal entsteht ein langes Gedicht, manchmal ein kurzer Spruch, manchmal auch nur ein einzelner poetischer Satz.

Was diese oft nur wenigen Worte so besonders macht, ist, dass sie konkrete Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse komprimieren, auf kleinstem Raum zusammenfassen. Doch, obwohl kompakt, sind sie nicht fest oder starr, denn es wohnt ihnen eine lebendige Energie inne, die ausstrahlt, sich in die Welt hinausschwingt.


Kennen wir nicht alle ein Gedicht, das unser Herz berührt, uns im Innersten anspricht, sodass wir es oft sogar auswendig lernen, oder einen Spruch, den wir an die Wand neben dem Bett oder dem Schreibtisch hängen, damit er unseren Tag bunter färbt?


Warum berühren uns manche Gedichte, Texte, Sprüche so sehr? Weil wir – bewusst oder unbewusst – damit in Resonanz treten, weil diese Worte an etwas in uns andocken und wir sie so wieder auseinanderfalten, entflechten, für uns lebendig machen, d.h. sie mit eigener Lebenserfahrung befüllen, sozusagen das Dichte wieder ent-dichten können. Die konkreten Erfahrungen jedes einzelnen mögen unterschiedlich sein, aber die darunterliegende Essenz ist die gleiche und so fühlen wir uns verbunden, angebunden an den Fluss des Lebens, erfreut, ermutigt oder gestärkt.


Ent-dichten darf aber nicht mit ent-zaubern verwechselt werden, denn die Mystik, die das Werk ausmacht, bleibt erhalten. Ein schöpferischer Mensch schafft sein Werk aus der Mitte heraus, das heißt, er hat Zugang zu den inneren Welten, den inneren spirituellen Dimensionen, deren Energien er im Werk auffängt aber nicht gefangen hält, weshalb dem Betrachtenden oder Zuhörenden in den Zwischenräumen, der Leere zwischen den Zeilen, genug eigener Raum gelassen wird.


Was für Worte gilt, gilt natürlich umso mehr für bildnerische Werke oder auch Musik. Öffnen doch die Schwingungen der Farben oder Klänge die Zugänge zu den tieferen Seinsschichten fast noch unmittelbarer.


Ich möchte Sie daher einladen, sich von Werken, die Sie ansprechen, auch berühren zu lassen, sich auf sie einzulassen  und ihrem eigenen Urteil zu vertrauen. Der Literatur- und Kunstmarkt kann zwar den Preis diktieren nicht aber den persönlichen Wert für jeden Einzelnen bestimmen.

Seien wir mutig, nehmen wir das Ent-dichten und Neu-befüllen von Poesie, Kunst und Musik in unsere eigenen Hände.


Gedanken 2/3


„Zwischenräume öffnen sich wie von Zauberhand.

Verborgenes wird sichtbar und formt sich zu Gestalt.

Leben ist fließende Bewegung.“


In den nächsten Minuten möchte ich sie wieder zurück in die Nacht geleiten, Sie aber in eine besondere Nacht, eine magische Wüstennacht entführen, um meine Gedicht-Zeilen zu illustrieren.


Eine Sternennacht in der Wüste, das ist lichterfunkelnde Ewigkeit über mir, unendliche Weite rund um mich und ehrfürchtiges Staunen in mir. Ich kämpfe an gegen die Müdigkeit, will nicht einschlafen, um ja nichts von diesem einzigartigen Schauspiel zu versäumen. Meine Augen hüpfen von Stern zu Stern, immer weiter hinein in dieses Lichtermeer, und hinter jedem Lichtpunkt erkennen sie einen nächsten Lichtpunkt. Bin ich dabei, mich gänzlich in diesem unendlichen Ozean zu verlieren, darin zu versinken und mich aufzulösen, oder - halt - bleibe ich doch an einer mir bekannten Sternenformation hängen, klammere mich an ein mir vertrautes Sternbild, das mich gleichzeitig wieder an die Oberfläche holt, zurückholt in diese Nacht in der Westlichen Wüste Ägyptens, wo wir Schlafsack an Schlafsack und von Beduinenführern beschützt in einer Dünenmulde liegen?


Ich bekomme den Hauch einer Ahnung, ein beginnendes Verständnis dafür, was Menschen immer schon veranlasst hat, Sterne in Bilder zu fassen und mit Namen zu versehen. So wird nämlich aus dem Unbekannten, ein vertrautes Gebilde, das wir immer wieder erkennen, und Wiedererkennen schafft Vertrauen und Vertrauen schafft Sicherheit und Ordnung in einem unendlichen und schwer fassbaren Universum. Mir fallen die frühen Seefahrer ein, für die diese Orientierungshilfen sicher überlebenswichtig waren.


Etwas zu benennen, beinhaltet jedoch immer die Gefahr, an dieser Namensoberfläche haften zu bleiben und die Vorstellung, die dahinter liegt, einzuengen, das Sich-wandelnde darunter nicht mehr wahrzunehmen. Aber auch da ist die Wüste eine gute Lehrmeisterin. Sie lässt uns den ewigen Kreislauf des Sich-wandelns, des Zu- Gestalt-werdens und Sich-wieder-auflösens mitverfolgen.


Wieder möchte ich meine Erfahrungen in der westlichen Wüste Ägyptens als Beispiel heranziehen. Wie fantastisch sind doch die bizarren oft pilzähnlichen Kalksteingebilde der sogenannten Weißen Wüste anzusehen. Wenn man erfährt, dass sie Überreste ehemaliger Ablagerungen von Meeresfauna sind, die seit Jahrmillionen von Wind und Wüstensand erodiert werden, und sieht, dass ebendieser Sand an anderer Stelle wieder so fest gepresst wird, dass erneut felsenähnliche Strukturen entstehen, und wenn man einmal einen richtigen Sandsturm miterlebt, und sich von der Wucht der einzelnen Sandkörner am eigenen Leib überzeugt hat, kann man das Wechselspiel der Naturkräfte, diesen immerwährenden Kreislauf schon erahnen, auch wenn die Zeitdimension dieses Naturphänomens unser Fassungsvermögen übersteigt.

Seien wir mutig, nehmen wir die Wüste als Modell und rütteln ein bisschen an unseren festen Gebilden, an unseren Dogmen, an allem was wir durch Namen eingeengt haben, damit die lebendige Energie wieder fließen kann, denn „Leben ist fließende Bewegung“.


Gedanken 3/3


 „In die Mitte gehen. Nach innen gehen in die unendliche Weite des Universums, um gestärkt herauszutreten in die endliche Welt der Erscheinungen. Den Geist des Ortes wirken lassen, mit der Raumzeit verschmelzen, die lebendige Stille atmen.“


Der Geist des Ortes … kennen wir nicht alle dieses besondere Gefühl, das wir an manchen Orten verspüren? Was ist es eigentlich genau, das dort auf uns wirkt? Und welche Orte sind es, die für uns eine besondere Bedeutung haben?


Ich denke, jedem von Ihnen werden nun andere Beispiele einfallen, aber ich bin mir sicher, dass bei einer Ihrer ersten Assoziationen ein Ort in der Natur dabei ist - ein Platz in einem Wald, an einer Quelle oder einem See vielleicht - den Sie bei einem geruhsamen Spaziergang aufgespürt haben und wo Sie sich besonders wohlgefühlt haben, danach beruhigt oder auch energetisiert wieder weitergewandert sind.

Schon seit jeher haben Menschen auf solchen Kraftplätzen Gebäude errichtet, um sie zu kennzeichnen und ihre Wirkung zu verstärken. Sind nicht Sakralbauten jedweder Orientierung der Beweis dafür? Keltische Kreuze, germanische Steinkreise, altägyptische Pyramiden, hinduistische Tempel, islamische Moscheen, christliche Kirchen – sie alle verherrlichen den Geist des Ortes. Baumeister und Architekten haben diese besonderen örtlichen Gegebenheiten zu nutzen gewusst und zu jeder Zeit haben Glaubensgemeinschaften deren Wirkung im Sinne ihrer jeweiligen Dogmen ausgelegt.


Wie waren wir doch alle schockiert, als vor einiger Zeit die Taliban die riesigen Buddha-Statuen von Bamiyan in die Luft gesprengt haben oder Jahre später der IS die meisten der antiken Ruinen von Palmyra in Schutt und Asche gelegt hat. Aber vergessen wir da nicht, dass dies immer schon so war? Immer schon haben organisierte Glaubensgemeinschaften die Heiligtümer Andersgläubiger entweder für sich vereinnahmt und umgetauft oder gar verunstaltet oder zerstört. Pharaonen haben z. B. die Gesichter ihrer Vorgänger oder der ihnen nicht passenden Götter ausgekratzt, christliche Kapellen oder Wallfahrtskirchen wurden auf keltische Kultplätze gesetzt und … wer kennt nicht das Schicksal der Hagia Sofia, die von einer byzantinischen Kirche zur Moschee mutierte oder der Mezquita von Cordoba, deren Umwidmung von der Moschee zur Kathedrale nur das letzte Kapitel ihrer wechselvollen Geschichte  war – überall zerstörerische Rechthaberei.


Welcher dieser Glaubensgemeinschaften kann man nun den größeren Vorwurf machen, den Geist des Ortes für sich vereinnahmt und somit manipuliert zu haben? In Europa sind wir zur Zeit besonders mit dem Islam in all seinen Schattierungen konfrontiert, aber lässt nicht die Ikonografie einer Moschee mit ihren floral inspirierten abstrakten Mustern dem Geist mehr Freiraum als die schuldinspirierenden Leidensfiguren einer katholischen Kirche?


Seien wir mutig und ent-binden den Geist des Ortes von allen dogmatischen Fesseln. Ent-tempeln wir die Spiritualität.


Alice Siebenhofer 2018